Von Josef Lutz, Rolf Bertram und Stephan Moldzio, alle drei Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats der Offenen Akademie. Aktualisiert 9.3.16.
Es wird derzeit der Eindruck erweckt, die Lage in Fukushima Dai-ichi sei weitgehend im Griff. Dieser Eindruck ist falsch. Vielmehr kommt ein immer größeres Ausmaß der Atomkatastrophe ans Licht.
Kernschmelze – Zustand der Reaktorkerne
In den Reaktoren 1, 2 und 3 kam es am 11.3.2011 zur Kernschmelze. Die Kerne haben den Reaktordruckbehälter verlassen und sich in das Fundament hineingefressen. Wie es genau aussieht, ist unbekannt. Der Bereich ist nicht zugänglich. Nichtmal ein Roboter kam bislang in die Nähe, da nach wenigen Minuten durch die extrem hohe Strahlung die steuernde Elektronik zerstört wird. Es muss immer noch täglich tonnenweise Wasser zur Kühlung hineingepumpt werden.
Zustand der Abklingbecken
Die größte Gefahr ging vom Abklingbecken mit abgebrannten Brennstäben beim Reaktorblock 4 aus, welches einzustürzen drohte. Bis Dezember 2014 wurden alle 1.535 Brennelemente, die sich in dem Abklingbecken von Reaktorgebäude 4 befunden hatten, geborgen und in andere Lagerbecken gebracht. [1] Das Becken Reaktor 4 war als das gefährlichste eingestuft worden, denn ungekühlte Brennelemente können sich entzünden. Die Menge an Radionukliden in Becken 4 betrug das 10-fache der in Tschernobyl freigesetzten Menge. Allerdings: in den Abklingbecken der Reaktoren 1 – 3 befanden sich um Zeitpunkt der Katastrophe 2011 noch weiter zusammen 1573 Brennelemente. Über einen Fortschritt bei deren Bergung ist nichts bekannt.
Verseuchtes Abwasser
Bei der Kühlung der Abklingbecken und der geschmolzenen Kerne fallen enorme Mengen an radioaktiv kontaminiertem Wasser an. Es wird versucht, es zu filtern und wieder zu verwenden. Dabei sind auch das nur hilflose Versuche, denn auch die beste Filteranlage ist nicht in der Lage, Menge und Vielzahl der Radionuklide auch nur annähernd zurückzuhalten.
Auch dringen täglich geschätzt mehr als 300.000 Liter Grundwasser durch die rissigen Betonwände der Kellerräume unter den Reaktorblöcken. Die gigantische Menge an verseuchtem Abwasser lagert in rund 1.060 Metallsilos auf der Anlage (Stand August 2013) [2]. Zwischen 300 und 400 Tonnen Wasser kommen täglich hinzu (Stand Juli 2015) [3].
Tanks mit radioaktiv verseuchtem Wasser. Quelle [4]
Immer wieder kam es zu Lecks. Die sichere Verwahrung ist keineswegs gewährleistet. Es besteht ein System bei dem notdürftig „dekontaminiertes“ Wasser wieder in den Ozean entlassen wird. Nach einer von TEPCO im August 2014 veröffentlichen Graphik [5] sind 2013 pro Tag 225 Gigabecquerel (Gbq, =Milliarden Becquerel) Cäsium-137 sowie etwa 140 GBq Strontium-90 ins Meer geflossen.
Ab 2014 konnte die Einleitung von Cs-134 auf etwa ein Zehntel und die von Strontium-90 auf ein Drittel reduziert werden. Noch größere Mengen radioaktiven Tritiums werden freigesetzt, hier gab es noch wenig Fortschritte. Auch bei weiteren Maßnahmen soll die freigesetzte Menge zwar weiter reduziert werden, aber die Freisetzung wird nicht unterbunden. Um die 400 Tonnen radioaktives Wasser pro Tag flossen 2013 in den Pazifik [6].
Fertigstellung der „Eismauer“
Das Grundwasser ist hochgradig kontaminiert. Ein 1,4 Kilometer langer Eiswall soll eine weitere Kontamination der Umgebung verhindern. Diese Kältetechnik wird in kleinerem Maßstab auch schon beim Bau von U-Bahnen eingesetzt, um Grundwasser aus Baugruben fernzuhalten – in einem so großen Maßstab wie in Fukushima wurde es jedoch noch nie angewandt.
Anfang Februar 2016 wurde diese umstrittene „Eismauer“ fertiggestellt. Sie umschließt die Reaktoren 1 bis 4 und soll das Erdreich auf minus 30°C gefrieren. Sie besteht aus 1568 Rohren, die tief in die Erde ragen und über ein Kreislaufsystem, über das eine chemische Kühlflüssigkeit zirkuliert, miteinander verbunden sind. Zunächst soll ein Abschnitt der Eismauer zwecks Probelauf in Betrieb genommen werden [7]. Noch ist nichts erreicht, und es ist unklar, ob sich diese „Mauer“ vor allem auf längere Sicht als dicht erweist.
Verglaste Cäsiumpartikel in den Wäldern von Fukushima
Ein Forscherteam der Tokyo Universität fand in den Wäldern der Präfektur Fukushima verglaste Cäsiumpartikel, die mit aller Wahrscheinlichkeit aus dem havariertem AKW Fukushima stammen. Chemische Reaktionen und die große Hitze der Kernschmelze in den Reaktoren ließen die Partikel in dieser Form entstehen, die dann zuhauf in die Atmosphäre geschleudert und überall verteilt worden sind. Ähnliche radioaktive Partikel wurden auch früher schon in kontaminierter Umgebung kerntechnischer Anlagen (z.B. Geesthacht, Krümmel) als „Pac-Kügelchen“ nachgewiesen. Schon im Sommer 2011 wurden nicht weit vom AKW luftgetragene Partikel, die auf den Nadeln der Kiefern hafteten, gefunden. Diese wurden im Labor unter dem Mikroskop sichtbar gemacht.
Verglaste Cäsiumpartikel. Quelle Zaikei [8]
Auswirkungen
Gegenwärtig wird so getan, als sei alles im Griff und man könne sich sogar ohne Schutzanzug auf dem Gelände bewegen. Ein verharmlosender Propagandafilm findet sich auf der Website des japanischen Ministeriums für Wirtschaft, Handel und Industrie [9]. Auf Youtube findet man aber auch einem Film, der die wahre Realität des Lebens der Menschen in Fukushima und Tschernobyl zeigt.
Die Geschichte der sog. „friedlichen Nutzung der Kernenergie“ zeigt, dass es mit einem Heer von Lobbyisten gelungen ist, eine unglaubliche Nuklearpropaganda zu entfalten, deren Aufgabe darin bestand, die Öffentlichkeit und insbesondere arglose Politiker von der „segensreichen“ Atomenergie zu überzeugen. In wenigen Jahren schossen international mächtige Institutionen aus dem Boden (IAEO, EURATOM u.a.) , die bis zum Tag durch Irreführung und Vertuschung den Fortbestand einer lebensbedrohenden Technologie sichern. (s. z.B . Stephanie Cooke, „Atom – die Geschichte des nuklearen Irrtums“, Kiepenheuer & Witsch, 2011)
Die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) und der Wissenschaftliche Ausschuss der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen der atomaren Strahlung (UNSCEAR) spielen die Folgen der atomaren Katastrophen herunter. Sie behaupteten, dass es zu keinen „relevanten“ oder „wahrnehmbaren“ Strahlenfolgen in der betroffenen Bevölkerung kommen wird [10]. Die Ärzteorganisation IPPNW aber kommt zum Ergebnis:
„Statistisch gesehen sind in ganz Japan im Laufe der nächsten Jahrzehnte knapp 10.000 zusätzliche Krebsfälle zu erwarten, selbst wenn man mit den geschönten UNSCEAR-Zahlen und konservativen Risikofaktoren rechnet. Nutzt man andere Daten und modernere, realistischere Risikofaktoren, kommt man auf deutlich höhere Zahlen, etwa bis zu 66.000 zusätzliche Krebsfälle, ca. die Hälfte davon mit tödlichem Verlauf.“ [11]
Die gefundenen Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern überführen IAEO und UNSCEAR der Täuschung. Nach einer ersten Screening-Runde mit Ergebnissen im November 2015 wurde im Dezember 2015 bei 14 weiteren Kindern und Jugendlichen eine Schilddrüsenkrebserkrankung festgestellt. Damit ist Zahl der Betroffenen auf 167 angestiegen. Normalerweise liegt die Quote von an Schilddrüsenkrebs erkrankten Kindern nahezu bei null. [7]
Vergleicht man es mit den Zahlen aus den Folgen von Tschernobyl, so ist das Ergebnis alarmierend.
Anstieg von Schilddrüsenkrebs in Belarus 1976 bis 2004 [12]
Die Zeit zwischen der primären Zellschädigung und dem medizinisch nachweisbaren Ausbruch einer Krebserkrankung liegt bei Erwachsenen typischerweise bei 10 bis 20 Jahren. Das zeigen auch die Zahlen aus Belarus, wo bis 15 Jahre nach der Katastrophe noch einen Anstieg der Fälle zu verzeichnen war. Bei Kindern ist aufgrund ihrer höheren Zellteilungsrate diese Zeit bis zum Ausbruch kürzer. Vergleichen wir die heutige Zahl 167 zu Beginn 2016 in Japan mit Belarus 1990, auch fünf Jahre danach, so finden wir dort erst weniger als 50 Fälle. Das Ausmaß der Katastrophe im vergleichsweise dreimal so dicht besiedelten Japan scheint das Ausmaß von Tschernobyl zu übertreffen.
Schlussfolgerungen
79 % der Emissionen von Fukushima gingen über dem Pazifik nieder, nur 19 % über Japan, die restlichen 2 % verteilen sich auf andere Länder [13]
Dazu kommt die fortdauernde Kontamination des Pazifik [14]. Die Atomkatastrophe von Fukushima stellt bereits jetzt die größte je stattgefundene radioaktive Kontamination der Weltmeere dar. Und sie dauert an. Doch die Katastrophe wird heruntergespielt. Die japanische Regierung hat bereits 4 Atomreaktoren wieder in Betrieb gehen lassen, einer davon ist allerdings wegen Störfällen wieder abgeschaltet (Stand März 2016). Die Bevölkerung wird getäuscht. Die IAEO und die UNSCEAR informieren falsch. Schon immer war es das Ziel dieser Institutionen, Pannen herunter zu spielen um damit den ungestörten Betrieb von Atomkraftwerken zu sichern. Das Ausmaß der Verunstaltung unserer Lebenswelt durch nukleare Katastrophen ist so immens, dass Atomkraftwerke unverzüglich abgeschaltet werden müssen, weltweit.
[1] http://www.spreadnews.de/fukushima-aktuell-alle-brennelemente-aus-reaktor-4-erfolgreich-geborgen/1144172/
[2] http://www.zeit.de/wissen/umwelt/2013-08/fukushima-wassertanks-lecks-tepco
[3] https://www.tagesschau.de/ausland/akw-fukushima104.html
[4] http://www.surfline.com/surf-science/surfology-101-with-chris-borg—forecaster-blog_107436/
[5] http://www.fukuleaks.org/web/wp-content/uploads/2014/08/handouts_140825_04-j-copy-2-8.jpg
[6] http://enenews.com/japan-times-now-400-tons-a-day-of-toxic-water-estimated-to-be-entering-pacific-ocean-from-fukushima-plant-100-tons-more-than-tepco-had-claimed-asahi-leakage-radioactive-materials-is-becoming-s
[7] http://antiatom-fuku.de/fuku-info.html
[8] http://www.zaikei.co.jp/photo/293215.html
[9] http://www.meti.go.jp/english/earthquake/nuclear/decommissioning/index.html
[10] „39. The doses to the general public, both those incurred during the first year and estimated for their lifetimes, are generally low or very low. No discernible increased incidence of radiation-related health effects are expected among exposed members of the public or their descendants. The most important health effect is on mental and social well-being …“
www.unscear.org/docs/reports/…/13-85418_Report_2013_Annex_A.pd f
[11] http://www.ippnw.de/atomenergie/gesundheit/artikel/de/kein-schlussstrich-unter-die-akten-t.html
[12]Quelle: Nationales Schilddrüsenzentrum Belarus und Otto Hug Strahleninstitut – MHM.
[13] Stohl, Xenon-133 and caesium-137 releases into the atmosphere from the Fukushima Dai-ichi nuclear power plant, 2012
[14] https://www.offene-akademie.org/?p=150