Wahrhaftige Utopien sind seit dem Jahr 1516 – als der englische Philosoph und Staatsmann Thomas Morus (1478-1535) seinen Roman „Utopia“ veröffentlichte – als phantasievolle Entwürfe eines zukünftigen idealen Staatswesens betrachtet worden. Es ging damals und geht auch heute noch immer um eine Form demokratischer Gesellschaftsordnung, in der soziale Gerechtigkeit, körperliche und geistige Gesundheit, allgemeine Bildung und gemeinschaftliches Eigentum für alle Menschen weltweit grundsätzlich angestrebt wird. Der irische Dramatiker Oscar Wilde (1854-1900) hat 300 Jahre später diesen Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Fortschritt und Utopien mit den Worten deutlich gemacht: „Fortschritt ist nur die Verwirklichung von Utopien.“
Vom 24. bis 26. Oktober 2025 wird sich an der Universität Göttingen die Tagung „Fortschrittliche Utopien“ mit der heutigen Rolle und Bedeutung von Utopien in Wissenschaft und Forschung sowie in Politik und Gesellschaft intensiv beschäftigen. Zukunftsfähige gesellschaftliche Utopien werden eine wichtige Rolle bei den Diskussionen spielen. Denn durch die Weltfinanzkrise 2008 ist vielen Menschen klargeworden, wie bedeutend fundierte Kritik an der herrschenden wirtschaftlich begründeten gesellschaftlichen Macht ist. Oder wie es schon der Philosoph Ernst Bloch (1885-1977) in Das Prinzip Hoffnung erklärt hat: „ … der Kapitalismus ist ungesund – sogar für die Kapitalisten.“
Diese Tagung im Oktober 2025 will mit ihren Themen die breite Öffentlichkeit ansprechen, insbesondere junge Menschen. Die Vortragenden kommen aus den Bereichen Wissenschaft, Kultur, Politik, den Gewerkschaften und fortschrittlichen sozialen Bewegungen.
Da, wie Max Horkheimer (1895-1973) bereits betonte, jede Utopie zwei Seiten hat – „… sie ist die Kritik dessen, was ist, und die Darstellung dessen, was sein soll.“ – , werden alle Vortragenden sich entsprechend ausführlich und weitreichend den folgenden Themen und daran anschließenden Diskussionen widmen – die Tagung folgt dabei der Losung Blochs „Utopie ist Denken nach vorn“:
(a) Der Abbau der bürgerlichen Demokratien in Europa schreitet zügig voran: Steht die Idee der Demokratie selbst am Abgrund? Wie können echte demokratische Verhältnisse erreicht werden angesichts der extremen Ungleichverteilung von Besitz, Eigentum und Vermögen?
Denken wir nach vorn: Wie kann Demokratie (griechisch Volksherrschaft) also umfassend verwirklicht werden?
(b) Klimakrise; Schädigung und Zerstörung ökologischer Systeme, Biodiversitätsverlust: Wasgeschieht mit dem für unser Überleben so wichtigen Klima und unseren gemeinsamen natürlichen Lebensgrundlagen?
Denken wir nach vorn: Wie verhindern wir die wesentlichen Klimaschäden? – Wie schaffen wir räumlich und zeitlich Klimagerechtigkeit?
(c) Das Vernachlässigen gemeinwohlorientierter Grundlagenforschung: Was bedeuten die jüngsten US-amerikanischen Wissenschaftsbeschränkungen, Budgetkürzungen sowie weitere politische Eingriffe und Maßnahmen gegen Wissenschaftler für die Bevölkerung?
Denken wir nach vorn: Wie kann durch Förderung gemeinwohlorientierter Grundlagen-forschung grundsätzlich etwas zur Demokratisierung der Wissenschaft selbst, aber auch der Gesellschaft beigetragen werden?
(d) Militärische Aufrüstung als gefährlicher Weg: Neue hegemoniale Gebietsansprüche und eine massive militärische Rüstung bringen zweifellos große Gefahren für den Weltfrieden. Untergräbt die derzeitige massive militärische Aufrüstung letztlich nicht international jedwedes dauerhafte friedliche Zusammenleben?
Denken wir nach vorn: Welche Utopien und welche Politik ermöglichen eine Zukunftsperspektive für eine nachhaltige und sozial gerechte Welt ohne Kriege?
(e) Die Ideengeschichte fortschrittlicher Utopien: Warum sind entsprechende Zukunfts-visionen und Träumereien wissenschaftlich und gesellschaftlich außerordentlich wichtig? Worin bestehen Ziele oftmals auch verdrängter sozialistischer, anarchistischer und anderer gesellschaftsverändernder, progressiver Utopien – und was kann aus ihren bisherigen Umsetzungsversuchen gelernt werden?
Denken wir nach vorn: Will man die Welt und das Gemeinwohl verbessern, müssen dann nicht solche Utopien in der Wissenschaft, Politik und Gesellschaft wieder mitgedacht werden?
Diese Tagung im Oktober 2025 will den aktuell sich entfaltenden Dystopien des Rückschritts inhaltlich grundsätzlich etwas entgegensetzen und vor allem auch Menschen verschiedener Altersgruppen und Generationen Mut machen, sich wieder den grundlegenden Ideen und Praktiken der Aufklärung und des Freidenkertums zuzuwenden. So bestanden beispielsweise der Philosoph und Naturwissenschaftler Ludwig Büchner (1824 – 1899), die Frauenrechtlerin Helene Stöcker (1869 – 1943), der Schriftsteller Carl von Ossietzky (1889 – 1938) oder der Marxist Karl Liebknecht (1871 – 1919) und die sozialistische Politikerin Clara Zetkin (1857 – 1933) vor über hundert Jahren als der Aufklärung verpflichtete, prominente Freidenker grundsätzlich auf einer kritischen Prüfung jeglicher Sachverhalte. Sie strebten eine Gesellschaft an, die selbständiges Denken und wissenschaftliche Beweisführung fördert und die Menschenrechte, gleiche demokratische Grundrechte, Gewaltenteilung und Glaubensfreiheiten für alle Menschen garantiert.
Unsere Tagung an der Universität Göttingen vom 24. bis 26. Oktober 2025 will mit fundierten Informationen, einer kritischen Auswertung schöpferischer Diskussionen zur Entwicklung von Theorie und Praxis fortschrittlicher Utopien gesellschaftlich nach vorne blicken. Wir wollen wissen: Wie kann der Zusammenhang von individuellen sozialen Bedürfnissen und politischen Interessen einerseits und entsprechend benötigten gesellschaftlichen Veränderungen andererseits von den Betroffenen in der gegenwärtigen Gesellschaft verstanden, öffentlich verbreitet und kreativ weiterentwickelt werden?
Grundsätzlich sollen auf dieser Tagung Antworten auf die Frage „Wie wollen wir in Zukunft leben?“ gesucht und vielleicht auch gefunden werden.