Sehr geehrter Herr Präsident,

werter Kollege Brinksma,

mit Überraschung habe ich von der Entscheidung der Präsidialverwaltung der Technischen Universität Hamburg vom 19.12.2018 Kenntnis genommen, die Werbeplakate des Gesprächskreises Dialektik & Materialismus für einen Vortrag des Göttinger Physikprofessors Christina Jooß, Autor eines interessanten und aus meiner Sicht methodologisch sehr bedeutsamen Buches über die Selbstorganisation des Universums, nicht zu genehmigen.

Soweit ich verstanden habe, bringt die Präsidialverwaltung diese Entscheidung in Zusammenhang zum weltweiten permanenten Terrorismuskrieg, bezogen auf den 9/11., als Teil Ihres Engagement in der sog. Terrorismusabwehr. In diesen Kontext werden sowohl der Gesprächskreis Dialektik & Materialismus als auch der unsereweltclub sowie die gemeinnützige Marx-Engels-Stiftung angegriffen.

Als Teilnehmender und Vortragender im Rahmen dieses Arbeitskreises darf ich Sie auf einige Zusammenhänge aufmerksam machen und um ein Überdenken Ihrer Entscheidung bitten. Sofern Sie es für notwendig halten, stehe ich auch gerne für ein persönliches Gespräch zur Verfügung.

Um mich zunächst in Kürze vorzustellen: Ich war von 1974 bis 2006 Universitätsprofessor an der Universität in Bremen mit der Lehrstuhlbezeichnung „Allgemeine Behindertenpädagogik“. Ich habe versucht dieses Fach als „synthetische Humanwissenschaft“ zu entwickeln. Methodologisch habe ich mich dabei am Dialektischen Materialismus orientiert, der auf die Hegelsche Dialektik zurückzuführen ist und zunehmend als Gegensatz zu einer neo-positivistischen Auffassung in einer Reihe von Wissenschaften hohe Bedeutung gewinnt. Dazu gehört unter anderem die Wieder- bzw. Neuentdeckung hochentwickelter Natur- und Humanwissenschaften in der ehemaligen Sowjetunion, die ich selbst unter Aufgreifen der Psychologie und Neuropsychologie von Vygotskij, Lurija und Leont’ev, sehr oft im Kontext der durch den Hitler-Faschismus verdrängten wissenschaftlichen Diskurs der Weimarer Republik (u.a. für Hamburg selbst Ernst Cassirer), über Jahrzehnte rezipiert habe. Gerne stelle ich Ihnen hierzu weitere Informationen zu; ggf. werfen Sie bei Interesse einen Blick auf meine Homepage (www.basaglia@t-online.de). Vygotskij selbst ist einer der ganz großen Psychologen des 21. Jahrhunderts und sicherlich neben Freud die in theoretischer Hinsicht bedeutendste Figur für ein dialektisches Denken, wenn auch Freud selbst erst durch die Frankfurter Schule und den Freudomarxismus in diese Diskussion eingebracht wurde. Vygotskijs Bedeutung bis heute zeigt sich u.a. auch darin, dass der Soziologe Dirk Baecker, m.E. die bedeutendste Weiterentwicklung der Luhmannschen Systemtheorie, in seinem Buch über „Neurosoziologie“ unmittelbar auf Vygotskij, Lurija und Leont’ev zurückgreift. Aber auch die Debatte um Konstruktivismus lebt – trotz allen (vorangig deutscher Missverständnisse) als Solipsismus – lebt in diesen Traditionen. So geht die Kybernetik zweiter Ordnung, auf der diese aufbaut (Heinz von Foerster) sowohl auf die Hegelsche Dialektik wie auf deren logische Formalisierung durch Gotthard Günther zurück.

Und gegenüber dem positivistischen Hauptstrom der Methodologie im Sinne des Positivismus und kritischen Rationalismus Poppers (der, wie bekannt – Popper war Gründungsmitglied der Mont Pelèrin-Society – sehr stark neoliberal weltanschaulich geladen ist) gibt es eine Vielzahl von Entwicklungen, die nahezu direkt zu einer dialektisch materialistischen Position führen. Hierzu gehört u.a. das Werk des russischen Bewegungsphysiologen Bernstein, dem innerhalb der moderen Bewegungsphysiologie für deren Entwicklung überragende Bedeutung zugesprochen wird, aber ebenso auch der Physiker Lev Landau, auf den Christian Jooß u.a. in seinem hochaktuellen Buch zurückgreift.

Warum ich Ihnen dies alles schreibe?

In Zeiten, wo Wissenschaft und Vernunft durch autoritäre Regimes und rechten Populismus zunehmend delegitimiert werden („Fake News“), wo Barbarei und neue Kriegsgefahr um sich greifen, wo soziale Sitten unter den Bedingungen der Digitalisierung äußerst gefährdet sind („Trolle“, internationale staatliche Hacker-Einflüsse auf nationale Diskussionen, „Herrschaft der Algorithmen“) ist es von außerordentlicher Bedeutung, dass wir als Wissenschaftler und damit an zentraler Stelle mit verantwortlich für die Fortexistenz der Vernunft, uns nicht gegenseitig ausgrenzen oder gar diffamieren. sondern es aushalten, dass Wissenschaft immer auch ein Ringen um Wahrheit und für eine Humanisierung der Gesellschaft ist und notwendigerweise gerade dadurch ein Ort von Widersprüchen.

Ich fände es außerordentlich bedauernswert, wenn ausgerechnet im Jahr des 200sten Geburtstages von Karl Marx, der weltweit zunehmend neue Bedeutung als Philosoph und Ökonom erfährt, Ihre Universität bei dieser Haltung bliebe. Sich geirrt zu haben, ist in keiner Weise ehrenrührig. Das tun wir alle – und nicht nur einmal in unserem Leben. Stellvertretend für unseren Arbeitskreis lade ich Sie gerne ein, an der Diskussionsveranstaltung mit Herrn Prof. Jooß am 17.11. teilzunehmen, die ich, so der jetzige Stand der Planung moderieren werde.

Mit freundlichen Grüßen

(gez. Jantzen)


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